Thoma Galli- Ein Gefängnis ist kein Ort der Resozialiesierung

Ein Gastbeitrag

Tho­mas Gal­li arbei­te­te Jah­re lang als Gefäng­nis­di­rek­tor und wur­de in die­ser Zeit zum Geg­ner der Insti­tu­ti­on selbst. Ein Gespräch über die Mythen des Straf­voll­zugs und sei­ne Alternativen.


Herr Gal­li, Sie sagen, Gefäng­nis­se sei­en Unsinn. Und zwar im wahrs­ten Sin­ne des Wor­tes. Sie erfül­len nicht den Sinn, den die Gesell­schaft in ihnen sieht. Was ist das gro­ße Missverständnis?

Tho­mas Gal­li: Das liegt dar­in, dass die aller­meis­ten Men­schen den­ken, dass im Gefäng­nis eine Reso­zia­li­sie­rung statt­fin­det, dass also die Straf­fäl­lig­keit der Inhaf­tier­ten nach der Haft sinkt. Genau das Gegen­teil ist der Fall: Gefäng­nis­se machen die Men­schen oft nur noch kri­mi­nel­ler, aus­ge­grenz­ter, zyni­scher. Des­halb kom­men so vie­le auch immer wieder.

Sie haben 15 Jah­re lang im Straf­voll­zug gear­bei­tet. Wie sind Sie dort über­haupt gelan­det und wann kam die Erkennt­nis, dass Gefäng­nis­se viel­mehr deso­zia­li­sie­ren, als resozialisieren?
Die Berufs­wahl war eher eine Not­lö­sung. Ich wuss­te nach mei­nem Jura­stu­di­um nicht so recht, wohin, hab eine Wei­le pro­mo­viert und irgend­wann gedacht, dass das Beam­ten­tum zumin­dest Sicher­heit ver­spricht. Dann wur­de eine Stel­le in der JVA Amberg in Bay­ern frei.

Hat­ten Sie denn damals schon Zwei­fel an dem bestehen­den System?

Nicht wirk­lich. Im Jura­stu­di­um spielt der Straf­voll­zug, also das, was hin­ten raus­kommt, über­haupt kei­ne Rol­le. Wie wenig wir im Straf­voll­zug das errei­chen, was wir vor­ge­ben zu errei­chen, habe ich erst im Lau­fe der Jah­re verstanden.

Zuletzt waren Sie Direk­tor der JVA Zeit­hain in Sach­sen. Wie kam es im Novem­ber 2016 zu dem Ent­schluss, dort aufzuhören?

Als Anstalts­lei­ter ver­sucht man der Öffent­lich­keit gegen­über, die posi­ti­ven Aspek­te her­aus­zu­stel­len. The­ra­pie­an­ge­bo­te und sowas. Ich habe aber immer dazu gesagt, auch gegen­über Inhaf­tier­ten, dass wir uns nicht in die Tasche lügen soll­ten. Unter dem Strich ist das Gefäng­nis kein Ort der Reso­zia­li­sie­rung. Gera­de bei Leu­ten, die sozi­al inte­griert sind, ist Haft kon­tra­pro­duk­tiv. Das aber wol­len die meis­ten Men­schen nicht glau­ben oder hören. Irgend­wann kam der Gedan­ke, die­se Dis­kre­panz in einem Buch zu beschrei­ben, so wur­de ich zum „Gefäng­nis­di­rek­tor, der Gefäng­nis­se abschaf­fen will“. Was dem Jus­tiz­mi­nis­te­ri­um und vie­len Mit­ar­bei­tern nicht gut gefal­len hat.

Hat­ten Sie das Gefühl, ein Heuch­ler zu sein?

Ein Stück weit, ja. Einer­seits die Über­zeu­gung zu ver­tre­ten, dass Gefäng­nis­se nicht funk­tio­nie­ren, und gleich­zei­tig gutes Geld damit zu ver­die­nen – das passt nicht zusam­men. Es war also auch eine Fra­ge mei­ner Glaub­wür­dig­keit. Ich muss­te des­halb Kon­se­quen­zen ziehen.

„Das Rache­be­dür­nis ist die Ursa­che vie­ler Probleme

Gefäng­nis­se sind Sym­bo­le der Abschre­ckung, zumin­dest sol­len sie das sein. Sie sind unüber­seh­bar und undurch­sich­tig zugleich. Abschre­ckung funk­tio­niert aber nicht, sagen Sie.

Jeden­falls nicht in dem Maß, wie es die Gesell­schaft glaubt. Wenn die Abschre­ckungs­wir­kung so durch­schla­gend wäre, dann wür­den ja nicht so vie­le wie­der­kom­men. Gera­de schwe­ren Straf­ta­ten gesche­hen oft aus Trie­ben oder Affek­ten her­aus, da fin­det kaum eine ver­nünf­ti­ge Abwä­gung über die Fol­gen statt.

Ange­sichts der Tat­sa­che, dass sogar eine Par­tei wie die Grü­nen inzwi­schen mehr Law & Order for­dert – wie kann es einer Gesell­schaft gelin­gen, sich von der Fixie­rung aufs Stra­fen zu trennen?

Der Ver­än­de­rungs­pro­zess muss auf meh­re­ren Ebe­nen statt­fin­den: Ein Fak­tor ist Auf­klä­rung. Zei­gen, was die nega­ti­ven Fol­gen unse­res aktu­el­len Straf­sys­tems sind. Und dann geht es dar­um, Alter­na­ti­ve aus­zu­bau­en. In Baden-Würt­tem­berg und Sach­sen gibt es ja schon den Straf­voll­zug in frei­en For­men für jun­ge männ­li­che Straf­tä­ter, die ihre Haft in Wohn­ge­mein­schaf­ten ver­brin­gen, in einem Familienverbund.

Immer wie­der wird dar­auf hin­ge­wie­sen, wie inef­fek­tiv das Sys­tem Gefäng­nis ist. Karl Marx sag­te schon vor über 150 Jah­ren, dass „die Welt seit Kain durch Stra­fen weder gebes­sert noch ein­ge­schüch­tert wor­den ist“. Trotz­dem tut sich kaum etwas. Warum?

Eine Haupt­kraft ist der Ver­gel­tungs­drang, der im Men­schen steckt. Es ist sehr gut sozi­al­psy­cho­lo­gisch erwie­sen, dass die­ses Rache­be­dürf­nis Ursa­che vie­ler Pro­ble­me ist.

Aber steckt Rache wirk­lich in uns — oder wer­den wir nicht min­des­tens genau­so dazu konditioniert?

Ich glau­be, es ist ein sich gegen­sei­tig ver­stär­ken­der Pro­zess. Ich habe Zwil­lin­ge und schnell gemerkt, dass es auch bei denen schon so etwas wie Ver­gel­tungs­drang gibt. Wenn der Eine dem Ande­ren etwas weg­ge­nom­men hat, hat der Ande­re nur dar­auf gewar­tet, bis er sich rächen konn­te. Wären die gesell­schaft­li­chen Ver­hält­nis­se aller­dings ande­re, käme man viel­leicht viel stär­ker dazu, die­se Rache­en­er­gie in ande­re Bah­nen zu lenken.

Muss, wer gegen Gefäng­nis­se ist, auch gegen den Kapi­ta­lis­mus sein? Und liegt hier­in auch ein Pro­blem, dass näm­lich vie­le vor die­ser gedank­li­chen Kon­se­quenz zurückschrecken?

Ich glau­be nicht, dass man Gefäng­nis­se als rei­nen Aus­druck einer kapi­ta­lis­ti­schen Gesell­schafts­form anse­hen kann. Es gibt ja auch Gefäng­nis­se in sozia­lis­ti­schen Län­dern. Ande­rer­seits ist es schon so, dass das Straf­recht oft die­je­ni­gen schützt, die Ver­mö­gen besit­zen. Und ein Groß­teil der Straf­fäl­li­gen gehört eben zu den Ver­lie­rern des Kapi­ta­lis­mus. Inso­fern stimmt es, dass Gefäng­nis­se die Ver­hält­nis­se auf­recht­erhal­ten. Was mir auch erst in den ver­gan­ge­nen Jah­ren in Gän­ze bewusst gewor­den ist, ist, wie vie­le Men­schen am Straf­recht ver­die­nen. Nicht nur die Leu­te, die im Gefäng­nis arbei­ten. Auch ich, in mei­nem jet­zi­gen Beruf als Anwalt, ver­die­ne ja bloß, weil die Leu­te bestraft wer­den. Und je här­ter sie bestraft wer­den, des­to höher ist die Zah­lungs­mo­ral. Wenn es die Gefäng­nis­dro­hung nicht geben wür­de, wür­de ich als Anwalt nicht ver­die­nen. Und so gibt es vie­le Berei­che, die vom Sys­tem leben. Das macht Ver­än­de­rung schwierig.

Das Gefäng­nis der Zukunft hät­te Dorf-Charakter“

Könn­te man ver­kürzt sagen: Wir stra­fen, um uns nicht mit den Ursa­chen von Kri­mi­na­li­tät beschäf­ti­gen zu müssen?

Ja. Vie­les dreht sich um Sym­bo­lik. Dabei hat jede Straf­tat gesell­schaft­li­che, sozia­le Ursa­chen. Und die­se Ursa­chen wer­den im Rah­men unse­res Straf­rech­tes über­haupt nicht berücksichtigt.

Wie sähe ein uto­pi­scher Fahr­plan in Rich­tung einer gefäng­nis­lo­sen Gesell­schaft aus?

Es geht, wie gesagt, zunächst um Auf­klä­rungs­ar­beit, die auch die poli­ti­sche Spit­ze, die Par­tei­en, die Kom­mu­nen leis­ten müs­sen. Außer­dem muss das Straf­recht ver­än­dert wer­den. Klei­ne­re Ver­ge­hen wie Schwarz­fah­ren dür­fen nicht in Frei­heits­stra­fen enden. Es ist Zeit, das Straf­ge­setz­buch zu durch­fors­ten und sol­che Din­ge her­aus­zu­strei­chen. Dann soll­ten wir den Voll­zug wei­ter öff­nen. Grob gesagt geht es dar­um, Mythen zu zer­stö­ren und Alter­na­ti­ven zu entwickeln.

Kann eine Gesell­schaft denn kom­plett ohne Stra­fen funktionieren?

Theo­re­tisch, ja. Zumin­dest was das Stra­fen in einem rück­wärts­ori­en­tier­ten Sin­ne betrifft. Ich glau­be aber nicht, dass eine Gesell­schaft kom­plett ohne staat­li­che Gewalt aus­kom­men kann. Es gibt zwar sehr weni­ge, aber es gibt die­se Men­schen, bei denen auch ich sage, dass sie nicht frei her­um­lau­fen sollten.

Und was macht man mit denen?

Eine schwie­ri­ge Fra­ge, vor allem, weil ja irgend­je­mand fest­le­gen muss, wer zu die­ser Kate­go­rie der weni­gen Gefähr­li­chen gehört. Ich wür­de mich stär­ker an den Taten selbst ori­en­tie­ren. Und der Frei­heits­ent­zug muss in einem men­schen­wür­di­gen Kon­text statt­fin­den. Getrennt vom Rest der Gesell­schaft, aber so, dass die Leu­te viel Bewe­gungs­frei­heit und Gestal­tungs­frei­heit haben. Das Gefäng­nis der Zukunft hät­te also dorf­ähn­li­chen Cha­rak­ter. Am aller­wich­tigs­ten ist, dass man sich auch mit den Schwer­kri­mi­nel­len indi­vi­du­ell befasst und aus den Ein­zel­fäl­len dann sozia­le Rück­schlüs­se zieht.

Die Jus­tiz soll­te also in jedem Fall opfer­ori­en­tier­ter gestal­tet werden.

Genau. Ich hat­te gera­de neu­lich einen Fall, bei dem eine Buch­hal­te­rin eine Men­ge Geld hin­ter­zo­gen hat und der Fir­men­chef in der Ver­hand­lung sag­te, dass er auf kei­nen Fall möch­te, dass sie im Gefäng­nis lan­det. Statt­des­sen woll­te er, dass die Frau die Mög­lich­keit bekom­me, den Scha­den durch Arbeit wie­der­gut­zu­ma­chen. Was pas­sier­te? Die Frau wur­de zu drei Jah­ren Gefäng­nis ver­ur­teilt. Davon hat am Ende nie­mand was. Es wird viel in die Bestra­fung der Täter gesteckt, aber für die Opfer bleibt oft wenig Auf­merk­sam­keit und Kraft. Des­halb bin ich nach mei­nem Aus­schei­den aus dem Straf­voll­zug auch ganz bewusst in einen Ver­band ein­ge­tre­ten, ins Netz­werk B, in dem die Inter­es­sen von Opfern sexua­li­sier­ter Gewalt ver­tre­ten werden.

Resti­tu­ie­rung statt Vergeltung

Zen­tra­le Begrif­fe sind „res­to­ra­ti­ve jus­ti­ce“ und „trans­for­ma­ti­ve jus­ti­ce“. Wie genau könn­te Täter-Opfer-Aus­gleich in Zukunft aussehen?

Ich glau­be, dass Unrecht und Schuld wei­ter­hin in öffent­li­chen Ver­fah­ren fest­ge­stellt wer­den soll­ten, vor allem im Sin­ne der Geschä­dig­ten. In die­sen Pro­zes­sen soll­te aber nicht das kon­kre­te Straf­aus­maß fest­ge­legt wer­den, son­dern eher Kate­go­ri­en. Kate­go­rie A für beson­ders schwe­re Ver­bre­chen, Kate­go­rie B für mit­tel­schwe­re Ver­bre­chen, und so wei­ter. Was dann pas­siert, könn­te im Ver­bund ent­schie­den wer­den. Der Geschä­dig­te, wenn er denn will, zusam­men mit dem Täter und Fach­leu­ten. Im Mit­tel­punkt wür­de die Scha­dens­wie­der­gut­ma­chung stehen.

Und was ist mit Kate­go­rie C oder B? Wie wür­den Sie klei­ne­re Ver­ge­hen bestrafen?

Durch indi­vi­du­el­le Lösungs­an­sät­ze. Gemein­nüt­zi­ge Arbeit hal­te ich für zen­tral. Und zwar ganz gezielt. Jemand, der betrun­ken Auto gefah­ren ist, könn­te dann in einer Kli­nik mit Unfall­op­fern arbei­ten. Jemand, der im Super­markt geklaut hat, müss­te ein paar Tage mit den Mit­ar­bei­tern verbringen.

Und wer sich wei­gert, die­se gemein­nüt­zi­gen Arbei­ten zu leisten?

Es wird ein Rest blei­ben. Man könn­te sagen, das sind so weni­ge, die neh­men wir in Kauf. Oder man könn­te sagen, und so funk­tio­niert es schon in ande­ren Län­dern, dass gemein­nüt­zi­ge Arbeit die Haupt­stra­fe ist, und wer sich wei­gert, kommt in rich­ti­ge Haft. Das wäre zumin­dest ein Schritt in die rich­ti­ge Richtung.

Einer­seits muss sich das Sys­tem vom indi­vi­du­el­len Ansatz lösen, weil hin­ter ein­zel­nen Straf­ta­ten eben meist gesell­schaft­li­che Struk­tu­ren ste­cken. Ander­seits braucht es mehr Indi­vi­dua­li­sie­rung, was die Bewer­tung von Taten und Betreu­ung von Tätern angeht. Das klingt nach viel Bürokratie.

Es braucht viel Büro­kra­tie, das stimmt. Und es wäre nicht unbe­dingt kos­ten­güns­ti­ger als das aktu­el­le Sys­tem. Aber es wäre eben sehr viel erfolg­rei­cher. Ein Pro­blem ist, dass Poli­ti­ker, die sich jetzt für sub­stan­zi­el­le Ver­än­de­run­gen ein­set­zen wür­de, die Früch­te nicht ern­ten könn­ten. Es wird lan­ge dau­ern. Und mein Apell wäre der, dass man das Stra­fen gera­de dort in Fra­ge stel­len muss, wo es einem selbst weh­tut. Es gibt bei­spiels­wei­se genü­gend Lin­ke, die die­sen Reform­ide­en auf­ge­schlos­sen sind, aber im Umgang mit Rechts­ra­di­ka­len Gefäng­nis fordern.


Quelle: WWW was wäre wenn