Gefängnis -Tabuthema

Pedro Holzhey war selber mal inhaftiert. Er kennt die Nöte hinter Gittern. Und so bezeichnet sich Holzhey als Wasserträger, der denen eine Lobby gibt, die keine haben: den Strafgefangenen. Er will die Gesellschaft informieren und Fehleinschätzungen zum Justizvollzug korrigieren. Zudem setzt er sich für einen Vollzug ein, der viel bessere Reintegrationsquoten hat als es die deutschen je haben werden – wenn sich nichts ändert. Ein sehr erfolgreiches Vorbild hat er auch, nämlich das brasilianische APAC-Modell. Aber er stößt beim Wassertragen auf hohe Hürden.

Doch fangen wir mal bei den Betroffenen an, um zu verstehen, dass deren Not wirklich groß ist, und dass unsere Gesellschaft Vereine wie SET-FREE braucht. Stichwort Untersuchungshaft: Die löst einen Inhaftierungsschock bei den Betroffenen aus. „Keiner sitzt auf seinen Koffern und wartet auf die Polizei.“ Demzufolge werden die Menschen abrupt aus ihrem Leben gerissen – aus welchen Gründen auch immer. Traumatisierend sei diese Erfahrung gerade für deren Kinder und Familien. Und in den ersten Tagen nach der Inhaftierung geht draußen oft alles den Bach hinunter.

Eine Firma zum Beispiel hat plötzlich keinen Chef mehr. Eine Familie keinen Vater. „Das scheinen alles Randerscheinung zu sein, die aber in Summe zu einer Katastrophe werden, die keiner alleine bewältigen kann. Dann leiden die Inhaftierten natürlich auch unter ihrer Haftstrafe und ihrer Tat. Jeder bräuchte vom ersten Tag an eine Begleitung, um das Geschehene und das Leben neu zu sortieren, es aufzuarbeiten. Wie konnte es denn überhaupt so weit kommen? Wie komme ich da wieder raus? Doch in Deutschland werden die Inhaftierten damit im Wesentlichen allein gelassen.

Das sind schädliche Rahmenbedingungen für ein Vorhaben, das ehrenwert ist, nämlich die Reintegration von Straffälliggewordenen in unsere Gesellschaft zu optimieren. „Aber da, wo Hilfe nötig wäre, gibt es sie nicht. Dieses Bedürfnis findet im Gefängnis keine Resonanz. Hier herrscht Misstrauen so weit das Auge reicht. Denn man kann sich ja keinem anvertrauen.“

Sozialarbeiter, Psychologen, Ärzte – alle sind gehalten, jede entsprechende Wahrnehmung weiterzumelden, die als relevant betrachtet wird. Die Folge? Lieber gar nichts sagen. Oder nur das, von dem man meint, es schade nicht. Und in diesem Zusammenhang versucht SET-FREE, gute Alternativen aufzuzeigen und die Gesellschaft, Politik und Justiz dafür zu öffnen. Oft genug wird aber lieber geglaubt, dass es keine guten Alternativen gibt – weil das einfacher ist… Aber es ist nicht billiger.

Seine Maxime: Sozialen Frieden herstellen und diesen erhalten, anstatt brachial zu bestrafen. Dem sozialen Frieden ist viel mehr gedient, wenn nach heilsamen Lösungen für Opfer und Hinterbliebene gesucht wird, wenn es Formen der Wiedergutmachung gibt.

Es geht auch besser

In Brasilien gibt es seit 50 Jahre ein Modell, als Alternative zum herkömmlichen Strafvollzug, das um Klassen besser sei als das unsrige. „Nur will es hier in Deutschland keiner haben – es kommt ja aus Brasilien“, resumiert Holzhey. Was macht deren Modell so erfolgreich? „Die beiden Säulen Liebe und Disziplin. Mit ganz viel Zuwendung und Wertschätzung versuchen die Betreuer die Insassen wieder in ein normales Leben zurückzuführen. Aber sie fordern auch vieles ein: beispielsweise konsequentes Mitmachen. Sieben Tage in der Woche gibt es von morgens 7 bis 22 Uhr Programm. Es wird fast rund um die Uhr mit den Menschen gearbeitet – und wenn es sein muss über Jahre und Jahrzehnte hinweg.“

Sind die Rückfallquoten in Brasilien denn tatsächlich niedriger? „Im brasilianischen Normalvollzug nicht. Dort sind sie noch höher als in Deutschland. Aber in den APAC-Resozialisierungszentren liegen sie bei nur 20 Prozent. Im Vergleich dazu wird die Rückfälligkeit in Deutschland mit cirka 50 Prozent und im Jugendvollzug sogar mit cirka 70 Prozent angegeben. Unsere Gefängnisse produzieren also quasi einen „Ausschuss“ von 50 beziehungsweise 70 Prozent. Unternehmen mit einem solchen Ausschuss hätten schon längst Insolvenz anmelden müssen. Doch im Strafvollzug wird so getan, als sei das richtig und normal.“

Holzhey bezeichnet die Arbeit von SET-FREE auch als Sisyphusarbeit, „an der wir schon viele Jahre dran sind.“ Und er erklärt es so: In der Gesellschaft herrscht eine große Gleichgültigkeit gegenüber dem Vollzug. Erschwerend kommt hinzu, dass hier eine Grundhaltung des Bestrafens vorherrscht. Umfragen unter jungen Jurastudenten zufolge wollen ein drittel die Todesstrafe zurück und zwei drittel befürworten unter bestimmten Bedingungen die Anwendung von Folter.

Kann man etwa sagen, dass ein Teil der künftigen Staatsanwälte und Richter eine zweifelhafte Einstellung gegenüber unserem Rechtsstaat hat? „Das Ergebnis der Untersuchung ist erschreckend, weil eine derartige Grundeinstellung das Wesen unserer Demokratie und des Rechtsstaats erschüttert. Ausgerechnet Anwärter auf die mächtigsten Posten in unserer Justiz öffnen hierdurch Abgründe, die in der deutschen Geschichte schon einmal viel Unheil angerichtet haben und die wir so schnell nicht wieder schließen könnten, wenn ihnen das gestattet würde.“

Resüme

Tabuthema Gefängnis – ein schwieriges Terrain. Opferschutz und der Umgang mit Tätern stehen immer wieder in der Diskussion. Doch helfen wir einer Gesellschaft tatsächlich, wenn wir die so genannten Sünder in jedem Fall und unterschiedslos wegsperren? Oder wäre eine wertschätzende Zuwendung oft das viel bessere Mittel gegen das, was wir alle nicht wollen: Rohheit, Kriminalität, Morden und Gewalt – nämlich als bewusster Gegenpol zu dem, was eine Straftat ausmacht?

Holzhey ist sich sicher: Jeder ist fähig, Gutes und Böses zu tun. Und es sind auch die unterschiedlichsten Faktoren, von denen es abhängt, was zum Vorschein kommt oder was für immer verborgen bleibt.

Aber auch das Handeln einer Gesellschaft und der Politik hat eben Konsequenzen. Wir sollten auch nach dem Verursacher namens Gesellschaft fahnden“, gibt Holzhey zu
bedenken. Bestrafen und Einsperren allein helfe eben nicht. In den vergangenen 30 Jahren sind die Strafen zwar regelmäßig verschärft worden, doch die Rückfallquote
ist gleich katastrophal geblieben.


Quelle: Redaktionsdienst


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