Die Geisterfahrt einen Freigängers beschäftigt weiter die Gerichte

Denkt Winfried Conrad an die Verhandlung vor dem Limburger Landgericht vor einem Jahr, fährt ihm der Schauder immer noch durch alle Glieder. Der Landeschef der Strafvollzugsbediensteten saß im Saal hinter Panzerglas, als Richter Marco Schneider der Vize-Leiterin des Wittlicher Gefängnisses und einem Beamten der Diezer JVA eine Bewährungsstrafe von neun Monaten aufbrummte – wegen fahrlässiger Tötung.

Das Problem: Bei der Geisterfahrt eines Mannes, die einer jungen Frau im Januar 2015 das Leben kostete, saßen beide Vollzugsbeamte nicht im Unfallwagen. Das Auto gelenkt hatte ein Freigänger, der mit einem gestohlenen Wagen vor der Polizei floh, auf der Autobahn in den Gegenverkehr steuerte und in das Fahrzeug krachte, in dem die 21-jährige Frau saß. Der Geisterfahrer sitzt lebenslänglich in Haft. Doch tragen an der Todesfahrt auch die Vollzugsbeamten eine Schuld, die den Häftling überhaupt erst in den offenen Vollzug entlassen hatten?

Ja, urteilte das Limburger Gericht im vergangenen Jahr. Beide Beamten hätten ihre Sorgfaltspflicht verletzt. Nein, widerspricht nun der Generalbundesanwalt, der den Fall neu aufrollt. Am 25. September kommt es in Karlsruhe zu einer mündlichen Verhandlung vor Gericht, das den Limburger Schuldspruch möglicherweise kassiert. Während der Generalbundesanwalt bei der Wittlicher JVA-Vize-Chefin einen Freispruch fordert, soll der Fall des Diezer Bediensteten nach TV-Informationen in Limburg erneut verhandelt werden. Winfried Conrad geht fest davon aus, dass die beiden Vollzugsbeamten ungeschoren davonkommen. Er kritisiert das Limburger Urteil scharf. „Das hat bei uns allen für Schockstarre gesorgt.“

Experten blicken mit Spannung auf die Verhandlung vor dem Bundesgerichtshof. Deutschlandweit sind die Zahlen im offenen Vollzug seit dem Rechtsstreit drastisch gesunken. „Vollzugsbeamte fürchten, künftig immer vor den Kadi gezogen zu werden, wenn Häftlinge im Freigang etwas falsch machen“, sagt Conrad. Offen bleibt auch die Frage: Dürfen Dritte bei einem Verbrechen wie der Todesfahrt wirklich zur Verantwortung gezogen werden? Das Limburger Gericht warf den Vollzugsbeamten vor, der Geisterfahrer sei nicht tauglich für den offenen Vollzug gewesen. Die Beamten hätten die Akten gründlicher begutachten müssen. Mehr als 20 Verurteilungen hatte der Todesfahrer schon kassiert, weil er von den Achtziger Jahren an immer wieder ohne Führerschein fuhr, mehrfach vor der Polizei floh, einen Unfall durch riskante Überholmanöver baute oder mal mit 100 Stundenkilometern durch eine Tempo-30-Zone raste. „All das zeichnet das Bild eines unbelehrbaren Straftäters“, befand der Richter in Limburg, der den Vollzugsbeamten „mangelnde Reflexion“ vorwarf und hart bestrafte.

Der Generalbundesanwalt zerpflückt wiederum das Urteil. Und wie. In einem Schreiben, das unserer Zeitung vorliegt, wirft er dem Gericht massive Fehler vor – wie eine zu einseitig-düstere Sichtweise über die Tauglichkeit des Freigängers für den offenen Vollzug. Anders als das Limburger Gericht sieht er offenkundig keine Versäumnisse der Justizvollzugsbeamten, was die gründliche Beurteilung betraf. Winfried Conrad räumt ein: „Ein Restrisiko, dass ein Freigänger strafrechtlich wieder in Erscheinung tritt, besteht immer.“ Dennoch sei der offene Vollzug der beste Weg, Gefangene schrittweise auf ihre Entlassung ins freie Leben vorzubereiten.

Das Urteil polarisierte schon im vergangenen Jahr. Oberstaatsanwalt Hans-Joachim Herrchen sagte damals zufrieden: „Wenn der Reifenmonteur eine Schraube nicht fest genug anzieht und es deswegen zum Unfall kommt, steht er auch vor Gericht.“ Birgit Kannegießer, Landeschefin der hessischen Strafvollzugsbediensteten, konterte wiederum tobend: „Wenn ein Unfall 14 Monate nach der Autoreparatur erfolgt, steht der Monteur auch nicht mehr vor Gericht.“ Der Wittlicher JVA-Chef Jörn Patzak befand: „Hätte einer der Richter, die den Mann immer wieder zu Bewährungsstrafen verurteilt haben, in einem solchen Fall vor Gericht gestanden? Gewiss nicht. Doch wir als kleines Rädchen zahlen den Preis.“

Vielleicht auch nicht. Der Streit um die Todesfahrt geht nun in die nächste Runde. Winfried Conrad plagt vor der Verhandlung im September immer noch ein mulmiges Gefühl. „Vor Gericht und auf hoher See ist man in Gottes Hand“, sagt er.

Und doch glaubt Conrad an ein gutes Ende für Mitarbeiter in den Gefängnissen. „Die Signale stehen gut, dass die Vollzugsbeamten mit einem wohlverdienten Freispruch rechnen dürfen.“


Quelle: volksfreund