Ich bin Mitte vierzig und bis auf eine beginnende Altersweitsichtigkeit im Wesentlichen am Leben und gesund. Seit 18 Jahren arbeite ich als Psychotherapeutin und Gutachterin in der forensischen Psychiatrie. Zehn Jahre davon in einer Ambulanz für hoch rückfallgefährdete Straftäter. Mit Tätern also, die nach der Entlassung aus dem Vollzug weiterhin als sehr gefährlich eingeschätzt werden.
Meine Patienten waren auch einige der Sicherungsverwahrten, die 2011, nach einem Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte, vorzeitig aus der Sicherungsverwahrung entlassen werden mussten. Also ja, das waren Vergewaltiger, Mörder, Pädophile.
Mein Wohlbehaltensein verdanke ich, neben einem gütigen Schicksal, einem ebenso einfachen wie häufig übersehenen Umstand: Niemand, auch kein noch so hoch rückfallgefährdeter Straftäter, ist zu jedem Zeitpunkt seines Lebens gefährlich. Ich habe vielen einen guten Tag gewünscht, und ich musste auch andere Dinge fragen wie „Wollen Sie einen Tee?“ oder „Waren Sie gestern betrunken?“ oder „Sind Sie sicher, dass es kinderfreie Schwimmbadzeiten gibt?“ Man hat mir im Allgemeinen höflich geantwortet.
Und andersherum: Jeder, wirklich jeder Mensch kann einem anderen Menschen gefährlich werden. Man bedenke nur: Drei Viertel aller sexuellen Missbrauchshandlungen an Kindern finden im sozialen Nahfeld statt, während vor den Toren einer JVA eher gar nichts passiert. Viele sind Ersttäter, unbescholtene Männer und Frauen, die gerade noch neben Ihnen bei Rossmann an der Kasse standen. Und sieht man sich die Rückfallzahlen an, dann fallen entlassene Sicherungsverwahrte uns durchweg recht freundlich ins Auge.
Ihre Rückfallhäufigkeit nach der Entlassung betrug laut einer Untersuchung nur 18,5 Prozent, davon wurde nur jeder Zehnte zu erneuten Freiheitsstrafen verurteilt, der Rest zu Geldstrafen, also Peanuts. Demnach halten sich neunzig Prozent aller entlassenen Sicherungsverwahrten in Freiheit ganz gut. Zum Vergleich: Von den normalen Inhaftierten werden 35 Prozent erneut kriminell. Ein Grund für die niedrigen Rückfallraten der Sicherungsverwahrten sind ihr im Vergleich zu anderen Strafgefangenen fortgeschrittenes Alter und die damit gewonnene Ruhe und relative Weisheit. Es stellt sich jenseits der Fünfzig die Frage dringlicher, ob man wirklich in der Seniorenabteilung hinter schwedischen Gardinen seinen Lebensabend verbringen will.
Keiner von uns will für einen Rückfall verantwortlich sein und an einer Schlagzeile aufgehängt werden, so viel ist klar
Karoline Klemke
ZitatKaroline Klemke
Unser prognostisches Hauptproblem sind nach wie vor Männer zwischen 15 und 30, besonders wenn sie in Gruppen auftreten. Die haben − kulturübergreifend − das höchste Kriminalitätsrisiko. Ich rege mich also nicht auf, sondern freue mich, wenn ein offener Vollzug für Sicherungsverwahrte eingerichtet werden soll. Und zwar außerhalb des Gefängnisses, denn dort gehört ein offener Vollzug naturgemäß hin. Sicherungsverwahrte werden erst dorthin verlegt, wenn sich eine Menge Leute einig sind, dass von ihnen keine Gefahr mehr ausgeht: Gutachter, Therapeuten, Juristen. Und keiner von uns will für einen Rückfall verantwortlich sein und an einer Schlagzeile aufgehängt werden, soviel ist klar.
Ich habe lange Jahre in einem der Dienstgebäude vor den Toren der Justizvollzugsanstalt Tegel gearbeitet. Aus dem hohen Durchfahrtstor 1 werden die Entlassenen hinausgeschickt, genau wie Franz Biberkopf in Döblins „Berlin Alexanderplatz“. Sie tragen blaue Müllsäcke mit ein paar Habseligkeiten und setzen sich auf die gemauerte Einfassung einer Linde. Noch ein paar Schritte weiter, hinter der Ausfahrt, wartet die Freiheit, die dort Seidelstraße heißt. Nur wenige gehen schnell weiter bis zur U-Bahn. Manche werden abgeholt, manche sitzen stundenlang unter der Linde, warten und rauchen und warten. Aber es kommt niemand.
Berlin ist eine überaus bewegliche Stadt. Es gibt keinen vernünftigen Grund, eine Sexualstraftat oder sonst einen Rechtsbruch genau vor den Toren des Knastes zu begehen, dem man soeben entronnen ist.
Menschen, die man von jetzt auf gleich aus der Haft entlässt, ohne allmähliche Vorbereitung, ohne Lockerungen und begleitendes Gespräch, werden schneller und häufiger wieder straffällig.
Karoline Klemke
Das gilt auch für den offenen Vollzug. Neben einer solchen Einrichtung in Zehlendorf befindet sich seit Jahren ein Kinderpferdehof, auf dem sich Pferde und Kinder bester Gesundheit erfreuen. Und auf der Seidelstraße weiß man doch nie, ob man nicht gerade einem sachverständigen Zeugen, Gutachter, Richter, Justizbeamten oder Polizisten in die Arme rennt. Denn die laufen da viel öfter herum als anderswo in der Stadt. Und auch wenn man ein ganz unvernünftiger Mensch ist, braucht man einen Anlass für eine impulsive Straftat − einen Streit mit der Freundin oder einen Rauswurf. Auch dies ergibt sich selten direkt vor den Gefängnistoren. Die meisten Menschen dort sind entweder sehr froh oder sehr deprimiert. Beides sind keine Voraussetzungen, die eine Straftat begünstigen.
Aus der Seidelstraße oder anderen Orten in der Nachbarschaft von Justizvollzugsanstalten sind keine Kriminalitätsschwerpunkte geworden. Schon seit vielen Jahren findet man diese in der Hermannstraße oder der Oranienburger Straße, die wir im Allgemeinen ohne dramatische Bedrohungsgefühle beschreiten. Von der U8 gar nicht zu reden.
Stacheldraht hin oder her
Es gibt einen sicheren Befund in der Straftäterbehandlung: Soziale Kontrolle wirkt. Menschen, mit denen regelmäßig über ihre Straftaten gesprochen wird, sind seltener rückfällig. Stacheldraht hin oder her. Und es gilt ebenso sicher: Menschen, die man von jetzt auf gleich aus der Haft entlässt, ohne allmähliche Vorbereitung, ohne Lockerungen und begleitendes Gespräch, werden schneller und häufiger wieder straffällig.
Die unter der Linde warten und nicht abgeholt werden, sind ein Problem. Eines, das man durch die schrittweise Erprobung einer Entlassung im offenen Vollzug vermeiden möchte. Und bei Sicherungsverwahrten ist das noch dazu besonders nötig, denn lange Haftstrafen liegen hinter ihnen.
Ein hohes Gut ohne Garantie
Ich habe mich viele Jahre mit Kriminellen beschäftigt. Und ich habe dabei sehr wohl meine Angst behalten − vor den vielen verlorenen Männern, nachts auf der Straße, in U-Bahnen und Kneipen. Wer mit offenen Augen durch die Stadt geht, sieht sie überall. Menschen, um die sich keiner schert, die keine Sicht-, Urin- und Arbeitsplatzkontrollen und wöchentlichen Gespräche absolvieren wie im offenen Vollzug. Die voller Einsamkeit, Wut und Alkohol sind und nichts zu verlieren haben. Nicht einmal mehr gelockerte Haftbedingungen.
Ein offener Vollzug für Sicherungsverwahrte vor den Toren der JVA Tegel ist nicht nur rechtlich notwendig, sondern auch sinnvoll für unser aller Sicherheit − ein hohes Gut, das angestrebt, aber nie und nirgends garantiert werden kann. Ich zum Beispiel fahre nachts nicht mehr in der U8. Ist mir zu gefährlich.
Quelle. Berliner Zeitung.