Häftling gewinnt beim Bundesverfassungsgericht

Das Bundesverfassungsgericht i Deutschland

Der Mann war Zuhälter und saß in Haft. Während eines Freigangs erdrosselte er 2009 seine Geliebte (21), eine Prostituierte aus der Ukraine, mit einem Kabelbinder. Die Leiche packte er in einer Tiefkühltruhe, die in seiner Garage in Spenge (Kreis Herford) stand. Drei Jahre galt die Frau als vermisst. Der Mann hatte seine Strafe längst abgesessen, als Polizisten die Garage 2012 wegen ganz anderer Ermittlungen durchsuchten und die tiefgefrorene Tote fanden.

Wegen heimtückischen Mordes wurde der Mann Ende 2012 zu lebenslanger Haft verurteilt. Verteidiger Dr. Holger Rostek hatte mit seiner Revision Erfolg, und im zweiten Prozess wurde der Mann 2015 nur noch zu zwölf Jahren wegen Totschlags verurteilt. Das Motiv für die Tat wurde nie bekannt. Allerdings gelten die Ersparnisse der Frau, angeblich 50.000 Euro, als verschwunden. Die Strafe sitzt der Mann in der Justizvollzugsanstalt Bielefeld-Brackwede ab, als Straf-Ende gilt Februar 2024.

„Erhalt der Lebenstüchtigkeit“

2018 beantragte er zum ersten Mal eine sogenannte Ausführung – das Verlassen der Haftanstalt unter Aufsicht. Der Gefangene begründete den Antrag mit dem „Erhalt der Lebenstüchtigkeit“. Das Gefängnis lehnte das mit dem Hinweis ab, dass der Häftling keine Anzeichen für einen drohenden Verlust seiner Lebenstüchtigkeit zeige. Der Häftling bewältige seinen Alltag selbstständig, habe stabile Außenkontakte und nehme an Behandlungsprogrammen teil. Insofern spreche nichts für einen drohenden Verlust der Lebenstüchtigkeit. Außerdem sehe man eine Flucht- und Missbrauchsgefahr, schließlich habe der Mann die Tat, wegen der er sitze, während eines Freigangs verübt.

Der Häftling klagte vor dem Landgericht Bielefeld und argumentierte, der Bescheid der Justizvollzugsanstalt verstoße gegen das Resozialisierungsgrundrecht und den grundrechtlichen Schutz der Familie. Doch der Gefangene unterlag beim Landgericht, und das Oberlandesgericht in Hamm sah keinen Fehler in der Entscheidung der Bielefelder Richter.

Ohne Anwalt reichte der Häftling dann 2019 eine Verfassungsbeschwerde in Karlsruhe ein. Er schrieb sinngemäß, es könne nicht richtig sein, dass man seine Lebenstüchtigkeit im Gefängnis zum Maßstab mache. Es gehe darum, ob er sich nach seiner Freilassung draußen zurechtfinde. Aus den Erzählungen seiner Kinder sei ihm bekannt, wie rasant sich das Leben in Freiheit in den letzten Jahren gewandelt habe. .

Grundrecht auf Resozialisierung verletzt

Das Bundesverfassungsgericht gab der Beschwerde statt und befand, Landgericht Bielefeld und Oberlandesgericht hätten den Häftling in seinem Grundrecht auf Resozialisierung verletzt. Strafvollzug sei darauf ausgerichtet, Inhaftierten ein straffreies Leben zu ermöglichen.  Besonders bei Menschen, die lange hinter Gitter säßen, sei es erforderlich, „den schädlichen Auswirkungen des Freiheitsentzugs entgegenzuwirken und ihre Lebenstüchtigkeit zu erhalten und zu festigen“. Die Annahme, die Lebenstüchtigkeit eines Gefangenen müsse erst gefestigt werden, wenn es Anzeichen einer drohenden Verschlechterung gebe, sei falsch. Und wenn eine Haftanstalt eine Fluchtgefahr sehe, müsse sie eben entsprechende Maßnahmen vorsehen, wie eine Fesselung.

Uwe Nelle-Cornelsen, Leiter der JVA Bielefeld-Brackwede: „Wir haben unsere Genehmigungspraxis sofort umgestellt und prüfen Ausführungen jetzt bei allen Inhaftierten ab dem fünften Vollstreckungsjahr.“ Dr. Marcus Strunk, Sprecher der Justizvollzugsdirektion NRW: „Bisher gab es die Anweisung, nach dem siebten Haftjahr Ausführungen zu prüfen. Nach der Karlsruher Entscheidung sind wir jetzt mit den Haftanstalten im Land im Gespräch und werden unsere Vorschriften demnächst anpassen.“ Az.: 2 BvR 1165/19


Quelle: Westfalen-Blatt