Freiheitsstrafe- Schafft die Gefängnisse ab

Bevor ich meine erste Stelle im Justizvollzug antrat, kannte ich Straftäter nur aus den Medien. In meiner Wahrnehmung waren das vor allem Mörder, Vergewaltiger oder Räuber. Natürlich mussten sie weggesperrt werden! Im Jurastudium wurde uns die Freiheitsstrafe als zwingende Folge für Menschen vermittelt, die unsere wichtigsten Regeln gebrochen haben. Eine vermeidbare Folge, denn wer die Regeln bricht, ist selbst schuld. Er hätte sich anders entscheiden können. So denken wohl viele von uns, so dachte auch ich – bis ich das Gefängnis und seine Insassen näher kennenlernte.

Von den aktuell etwa 65.000 Inhaftierten sind die wenigsten Schwerstkriminelle. Etwa 4500 Menschen verbüßen Ersatzfreiheitsstrafen wegen "Schwarzfahrens" und ähnlicher Bagatelldelikte, weil sie eine Geldstrafe nicht bezahlen können. Fast die Hälfte aller Inhaftierten verbüßt Freiheitsstrafen wegen Eigentums- und Vermögensdelikten. Wegen Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung sind lediglich sechs Prozent, wegen Straftaten gegen das Leben sieben Prozent in Haft. Etwa 50 Prozent der Freiheitsstrafen dauern lediglich bis zu einem Jahr. Elf Prozent der Gefangenen haben eine zu erwartende Haftzeit von mehr als fünf Jahren.

Die weit überwiegende Mehrheit wird also spätestens nach wenigen Jahren wieder entlassen. In dieser Zeit wird wenig besser, aber vieles schlechter. Die meist jüngeren Männer (nur etwa sechs Prozent der Inhaftierten sind Frauen) werden mit einer Vielzahl anderer Straftäter auf engstem Raum eingesperrt. Es herrscht ein striktes Regime. Der Tagesablauf ist fast minütlich durchstrukturiert: Die Zeiten für Schlafen, Arbeiten und Hofgang sind vorgeschrieben. Jeder Gegenstand muss beantragt, jede Anweisung des Personals befolgt werden. Dennoch blüht die Subkultur der Gefangenen. Gewalt und Drogen prägen den Alltag. Alle Verstöße werden diszipliniert. Etwa durch eine mehrwöchige Trennung von anderen Gefangenen oder die Einzelhaft, ohne Fernseher. Besuch dürfen die Inhaftierten nur wenige Stunden, oft lediglich eine Stunde pro Monat empfangen, und manchmal nur hinter einer Trennscheibe, um die Übergabe von Drogen zu verhindern. Insbesondere für die Kinder von Gefangenen kann das grausam sein. Etwa 100.000 Kinder sind von der Inhaftierung eines Elternteils betroffen. Wie soll der Mensch sich in einem solchen Kontext zum Besseren entwickeln?

Die Justizbediensteten leisten eine sehr anspruchsvolle Arbeit. Den Kampf gegen die Subkultur können sie jedoch nicht gewinnen. Und was hilft es uns, wenn ein Straffälliger in Haft durch große Bemühungen der Beamten einen Schul- oder Ausbildungsabschluss nachholt, doch nach seiner Entlassung als Ex-Gefangener wenig Chancen auf dem Arbeitsmarkt hat? Was hilft es, wenn sich jemand – jeder Autonomie beraubt, aber auch jeder Verantwortung für das eigene Leben enthoben – einige Monate oder Jahre in Haft angepasst verhält und danach mit den Realitäten des Lebens in Freiheit überfordert ist? Was nützt es, während der Haftzeit vor einem Straftäter sicher zu sein, wenn dieser danach mit größerer Wahrscheinlichkeit als zuvor wieder Straftaten begeht?

Untersuchungen zufolge wird der überwiegende Teil entlassener Strafgefangener wieder straffällig. Jeder Dritte erhält erneut eine Freiheitsstrafe ohne Bewährung. Weil es zudem ein hohes Dunkelfeld von nicht aufgedeckten Straftaten gibt, darf man annehmen, dass die Gefängnisstrafe kontraproduktiv wirkt: Sie führt zu vermehrter Straffälligkeit der Inhaftierten. Wem soll das nützen?
Mehr als 70 Prozent aller Kriminalitätsopfer erleiden materielle Schäden. Mit großem Abstand steht bei ihnen der Wunsch nach Ersatz des Schadens an erster Stelle. Die Inhaftierung des Täters erschwert dies, da die Gefangenen nur etwa zwei Euro pro Stunde verdienen können. Der Strafvollzug kostet vier Milliarden Euro im Jahr; die Opfer erhalten vom Staat weder Schmerzensgeld noch Schadensersatz. Gewaltopfer haben gleich nach der Tat oft ein starkes Strafbedürfnis, das aber mit der Zeit deutlich abnimmt. Der Wunsch zu vergessen und die eigene Krisenbewältigung treten in den Vordergrund. Wichtig ist vielen vor allem, dass der Täter anderen nicht erneut schadet.

Entgegen einer gängigen Meinung erwartet die Mehrheit der Bevölkerung als Sanktion vieler Delikte gar keine Gefängnisstrafe. Oft wird die Verpflichtung zu gemeinnütziger Arbeit, bei Eigentumsdelikten werden sogar nichtstrafende Reaktionen in Form einer Missbilligung und einer Verpflichtung zur Wiedergutmachung der Gefängnisstrafe klar vorgezogen.


Wir alle müssen mehr Verantwortung übernehmen

Auch die Abschreckungswirkung des Gefängnisses ist weit geringer, als viele vermuten. Die meisten Täter rechnen damit, ohnehin nicht erwischt zu werden. Andere sind süchtig nach illegalen Drogen und nehmen alles in Kauf, um in deren Besitz zu kommen. Bei Gewalt- oder Sexualstraftaten, die aus starken Impulsen, Trieben und Affekten heraus begangen werden, spielt der Abschreckungsgedanke ohnehin keine große Rolle.

Wie gering die Abschreckungswirkung tatsächlich nur sein kann, zeigt der Tabakkonsum. Jeder kennt die Bilder von Raucherlungen oder krebsbefallenen Zungen auf Zigarettenpackungen. Dazu der Hinweis, der eindeutiger nicht sein könnte: Rauchen ist tödlich. Mehr Abschreckung geht kaum. Geraucht wird trotzdem.

Unsere Gefängnisse nützen also niemandem. Im Gegenteil: Sie schaden uns, vor allem durch ihre trügerische Symbolik. Sie stehen für Gerechtigkeit, jedoch hat die Mehrheit der Straffälligen einen in materieller oder emotionaler Hinsicht besonders belasteten Sozialisierungshintergrund. Es werden nicht grundsätzlich Menschen eingesperrt, die vergleichbare Voraussetzungen wie alle anderen hatten und sich, anders als "wir", einfach nur gegen das Recht entschieden haben. Das Gefängnis spiegelt vielmehr gesellschaftliche Ungleichheit – und verstärkt diese.

Was sollte an die Stelle des Gefängnisses treten? Einigen wenigen, wie sadistischen Sexualmördern, muss zum Schutz der Allgemeinheit lebenslang die Freiheit entzogen werden. Das sollte jedoch in dorfartigen Einrichtungen und nicht in gerade bei längerer Unterbringung menschenunwürdigen Gefängnissen erfolgen.

Auch wer andere körperlich verletzt oder sonst massiv geschädigt hat, sollte in seiner Freiheit beschränkt werden, allerdings so, dass das Rückfallrisiko langfristig minimiert wird. In Betracht kommen hier dezentrale Wohngruppen, die gegen Entweichungen gesichert sind. So ließe sich individuell und in einem lebensnäheren Kontext mit Straffälligen arbeiten, ohne dass sie in eine Subkultur abgleiten. Als Alternative zur Haft sind auch Einschränkungen der Freiheit durch eine elektronische Aufenthaltsüberwachung ("Fußfessel") oder die Entziehung der Fahrerlaubnis denkbar. Strafe sollte darüber hinaus vor allem im Leisten gemeinnütziger Arbeit bestehen. Vor allem muss eine Wiedergutmachung des Schadens im Mittelpunkt stehen, auch wenn sie Jahre dauert.

Viele Betäubungsmittel- und Bagatelldelikte sollten nicht mit Freiheitsstrafe bedroht sein. "Schwarzfahren" oder der Diebstahl geringwertiger Sachen kann ebenso gut als Ordnungswidrigkeit verfolgt werden.

Die Justiz darf nicht länger gebetsmühlenhaft von der Resozialisierung der Täter, der Erhöhung der Sicherheit und dem Willen der Opfer reden. Sie muss transparent machen, was wir mit unseren Gefängnissen anrichten.

Wir alle müssen mehr Verantwortung übernehmen. Das Strafen ist nicht nur eine Frage für Fachleute. Es ist Ausdruck unseres allgemeinen Bedürfnisses, Regelverstöße zu ahnden. Es geht dabei nicht um Verständnis für Straftaten oder die Abschaffung von Strafe. Es geht darum, uns bewusst zu machen, was wir mit ihr erreichen wollen und was wir tatsächlich erreichen.

Ich habe nach mehr als 15 Jahren meinen Dienst im Strafvollzug quittiert, denn ich bin überzeugt: Die überwiegende Mehrheit der Straftäter gehört nicht hinter Gitter. Unser Gefängnis ist eine schädliche und überholte Institution.

Quelle : Zeit online

Antworten 1

  • Also ich finde den Bericht sehr gut und bin der gleichen Meinung mein Sohn hat zuhause Cannabis angebaut und sitzt im Gefängnis er hat dadurch seine Arbeit und seinen Führerschein verloren nur wegen ein bisschen Gras das nicht mehr anrichtet wie Alkohol oder Zigaretten

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