Über Jahre vergiftete der Krankenpfleger Niels Högel Patienten. Das Ausmaß seiner Taten bleibt lange unerkannt - bis die Tochter eines Opfers nachzuhaken beginnt.
Niemand, da sind sich die Ermittler sicher, hat in der Nachkriegszeit in Deutschland mehr Menschen umgebracht als Niels Högel. Der ehemalige Krankenpfleger ist vor dem Landgericht Oldenburg wegen einhundertfachen Mordes angeklagt. Bereits vor einigen Jahren stand er vor Gericht, jedoch nur wegen eines Bruchteils der Fälle, die ihm nun angelastet werden. 2015 wurde er wegen zweifachen Mordes, zweifachen Mordversuchs und gefährlicher Körperverletzung verurteilt. Das Urteil: lebenslange Haft und die Feststellung einer besonderen Schwere der Schuld.
Das war bereits die höchste Strafe, die das deutsche Strafrecht kennt. Ein strengeres, härteres Urteil wird es in diesem neuen Prozess nicht geben. Trotzdem sei man allen Angehörigen eine möglichst komplette Aufklärung schuldig, so der Oldenburger Oberstaatsanwalt Thomas Sander. Högel hat über Jahre Patienten auf der Intensivstation mit Medikamenten vergiftet, die Herzversagen und Kreislaufstörungen auslösen - nur, um sich bei anschließenden Wiederbelebungsversuchen in Szene setzen zu können. Viele seiner Opfer überlebten nicht, auch weil Högel manche Patienten mehrmals vergiftete. Er habe den "Kick" spüren und sein handwerkliches Können bei Reanimationen unter Beweis stellen wollen, sagte der Angeklagte aus. Obwohl er seit spätestens 2006 polizeibekannt war, blieb das Ausmaß seiner Taten jahrelang unentdeckt. Högel konnte sogar eine Zeit lang als Altenpfleger arbeiten.
Ein Überblick über die Tatorte, die Prozesse und den Verlauf der Ermittlungen.
1994 bis 1998 Högels Ausbildungsstation und erste berufliche Station
Im August 1997 besteht Niels Högel im Alter von 20 Jahren seine Abschlussprüfung zum Krankenpfleger. Schon sein Vater übte diesen Beruf aus. An seinem ehemaligen Ausbildungsplatz, dem Sankt-Willehad-Hospital in Wilhelmshaven, arbeitet Högel noch zwei weitere Jahre. Aus dieser Zeit sind keine Taten aktenkundig.
1999 bis 2002: Högels Zeit im Klinikum Oldenburg
Niels Högel ist auf der herzchirurgischen Intensivstation im Klinikum Oldenburg beschäftigt. Hier fällt er immer wieder auf, weil er sich bei Reanimationen in Szene setzt. Bei etwa 60 Prozent der Sterbefälle auf der Intensivstation im Jahr 2001 ist Högel im Dienst. Im August gibt es auf Station 211, wo Högel tätig ist, eine Besprechung mit allen Ärzten und Pflegern, in der auch über den auffälligen Anstieg von Reanimationen und Todesfällen gesprochen wird. Högel sagt später, dass er damals fürchtete, aufgeflogen zu sein. Er meldet sich für drei Wochen krank. An das Wochenende nach seiner Rückkehr erinnern sich viele seiner ehemaligen Kollegen: Es kommt zu 14 Reanimationen an fünf Patienten. Drei davon sterben an diesem Wochenende, die zwei anderen an den folgenden Tagen. In dieser Zeit benutzt Högel bereits fünf verschiedene Medikamente für seine Taten. Er wird in die Anästhesieabteilung des Klinikums Oldenburg versetzt, drängt sich bei Wiederbelebungen jedoch weiterhin in den Vordergrund. Deswegen wird Högel Ende 2002 unter vollen Bezügen freigestellt. Er erhält ein gutes Zwischenzeugnis. Heute geht man davon aus, dass Högel im Klinikum Oldenburg mehr als 30 Menschen umgebracht hat.
2002 bis 2005 Högles Zeit im Klinikum Delmenhorst
Eine Woche nach Beginn seiner Tätigkeit in Delmenhorst tötet Niels Högel bereits seinen ersten Patienten. Während der drei Jahre, die er in dem Klinikum beschäftigt sein wird, so kommt es später heraus, steigt die Todesrate rapide: Von den 411 Menschen, die während dieser Zeit sterben, kommen 321 während seiner Schicht oder kurz danach ums Leben. Gleichzeitig ist der Verbrauch des Herzmittels Gilurytmal siebenmal höher als in den Jahren zuvor. Am 22. Oktober 2005 wird der damals 28-Jährige schließlich von einer Krankenschwester überrascht, als er einem Patienten unerlaubt das Gilurytmal spritzt. Der 63-jährige Patient stirbt kurz darauf. Zwei Tage darauf, nachdem die Ergebnisse einer Blutuntersuchung des Verstorbenen vorliegen, gibt es eine Besprechung der Führungskräfte. Das Klinikum schaltet die Polizei ein, es kommt zur Anzeige. Högel beendet jedoch am Tag der Besprechung noch seine Schicht - es ist zufällig sein letzter Tag vor Beginn seines Urlaubs. Noch am selben Abend tötet er mindestens einen weiteren Patienten. Insgesamt, das ergeben die Ermittlungen später, hat Niels Högel im Klinikum Delmenhorst offenbar mindestens 66 Personen umgebracht.
2006 bis 2008 Die ersten Prozesse
In den ersten beiden Prozessen geht es nur um den Mord an dem 63-Jährigen, bei dessen Tötung Högel von einer Kollegin am Klinikum Delmenhorst ertappt worden war. Dass er ein Serientäter sein könnte, ziehen die Ermittler anscheinend nicht in Erwägung. Während der Prozess durch die Instanzen geht, lebt Högel weiter in Freiheit. Er arbeitet in zwei Altenheimen. Zunächst wird er 2006 nur wegen versuchten Totschlags zu fünf Jahren Haft verurteilt. 2008, im Revisionsverfahren, verschärft sich die Strafe: siebeneinhalb Jahre Haft und lebenslanges Berufsverbot wegen versuchten Mordes. Högel kommt in das Gefängnis Oldenburg, in dem er seitdem untergebracht ist. Obwohl er an seinen beiden letzten Arbeitsplätzen negativ aufgefallen war, nimmt die Staatsanwaltschaft Oldenburg keine weiteren Ermittlungen auf. Und das, obwohl der Oberarzt des Klinikums Delmenhorst sowohl in dem Verfahren 2006 als auch 2008 auf den ungewöhnlich hohen Verbrauch des Medikaments Gilurytmal in der Beschäftigungszeit von Högel hinweist.
2008 bis 2009 Die ersten Exhumierungen
2008 erfährt Kathrin Lohmann durch die Medien vom Fall Högel und der Verurteilung des Krankenpflegers. Ihre Mutter war 2003 in Delmenhorst unter der Aufsicht Högels verstorben. Es ist der Hartnäckigkeit und dem beständigem Nachhaken von Lohmann bei der Staatsanwaltschaft zu verdanken, dass weitere Ermittlungen aufgenommen werden. 2009 wird die Mutter von Lohmann exhumiert. Durch eine toxikologische Untersuchung kann das Mittel Ajmalin in ihrer Hirnflüssigkeit nachgewiesen werden. Daraufhin werden 2010 sieben weitere Leichen exhumiert. Bis die Staatsanwaltschaft ihre Ermittlungen zu einem Ende führt und es zu einem weiteren Prozess kommt, werden noch Jahre vergehen.
2014 Ermittlungen in Delmenhorst
Noch ist das Ausmaß der Verbrechen nicht klar. Im Blick der Ermittler ist zu diesem Zeitraum lediglich eine kleine Zahl von Taten, die Högel während seiner Tätigkeit in der Klinik in Delmenhorst begangen haben soll. Im Januar 2014 klagt die Staatsanwaltschaft den damals 38-Jährigen wegen dreifachen Mordes (darunter auch an der Mutter von Kathrin Lohmann) und zweifachen Mordversuchs an. Der Prozess beginnt im September und wirft weiteres Licht auf das mögliche Ausmaß von Högels Taten. Zwei Monate nach Prozessbeginn wird die Sonderkommission “Kardio” gegründet. In allen Einrichtungen, in denen Högel gearbeitet hat, suchen die Ermittler nach weiteren, möglicherweise durch Högel herbeigeführten Todesfällen. Nun wird auch gegen acht Mitarbeiter der beiden Kliniken in Delmenhorst und Oldenburg wegen “Tötung durch Unterlassen” ermittelt.
2015 Urteil im Mordprozess
Im Februar 2015 wird Högel zu lebenslanger Haft verurteilt. Es wird auch eine besondere Schwere der Schuld festgestellt, was bedeutet, das der Verurteilte nicht damit rechnen kann, dass die Strafe nach 15 Jahren zur Bewährung ausgesetzt wird. Die Staatsanwaltschaft Oldenburg kündigt mehr als 100 weitere Exhumierungen an.
Zitat des Angeklagten; Bei fünfzig habe ich aufgehört zu zählen.
2016 Die Dimensionen der Verbrechen wird klar
Weitere verstorbene Patienten werden exhumiert, die Zahl der möglichen Opfer steigt. Im Juni geben Staatsanwaltschaft und Polizei eine Pressekonferenz, bei der sie mitteilen, dass Niels Högel schon in Oldenburg Patienten getötet haben soll. Bisher hatte man angenommen, dass sich die Taten sich auf seine Zeit in Delmenhorst beschränkten. Der frühere Krankenpfleger wird sechsmal vernommen. Die Aufnahmen der Gespräche erstrecken sich über 30 Stunden.
Ende 2017/ Anfang 2018 Abschluss der Ermittlungen
Die Sonderkommission “Kardio” beendet ihre Ermittlungen im August 2017. 134 Leichen auf 67 Friedhöfen sind exhumiert und untersucht worden. Die Anklage erhebt die Staatsanwaltschaft Oldenburg im Januar 2018. Der Vorwurf lautet: Mord in 97 Fällen. Im Laufe des Jahres werden noch drei weitere Verbrechen in die Anklageschrift aufgenommen. Nun lautet der Vorwurf: Mord in 100 Fällen. Knapp zwei Drittel der Taten, für die Högel nun vor Gericht steht, soll er im Klinikum Delmenhorst begangen haben. Die tatsächliche Zahl der Fälle ist vermutlich höher - die Leichname vieler potenzielle Opfer können nicht untersucht werden, da sie eingeäschert wurden. Die bekannten Opfer von Niels Högel waren zwischen 96 Jahren und 34 Jahren alt.
30 Oktober 2018 Prozessbeginn
Die Verhandlung gegen Niels Högel in der aus Platzgründen für den Prozess angemieteten Weser-Ems-Halle beginnt. Dem Verfahren haben sich 126 Angehörige als Nebenkläger angeschlossen. Die Staatsanwaltschaft hat in ihren drei Anklagen 23 Zeugen und elf Sachverständige benannt aus dem Bereich der Toxikologie sowie der Rechtsmedizin. Der Prozess wird bis mindestens Mai 2019 dauern, angesetzt sind 24 Verhandlungstage. In einem weiteren Prozess werden sich zwei Oberärzte, der Pflegedienstleister der Intensivstation sowie die stellvertretende Stationsleiterin des Klinikum Delmenhorst vor Gericht verantworten müssen.